05.04.2020

Von Andrea Drescher

Die Stunde der Heuchler

 

Im Zeichen von Corona wollen angeblich alle die Alten schützen — in Wahrheit sterben diese nun einsam, isoliert und oftmals zu früh.

 

Täglich sterben in Pflegeheimen alte Menschen. Das war schon immer so. Früher jedoch waren sie in ihren letzten Lebenswochen meist nicht allein. Angehörige konnten sie besuchen und auf ihrem letzten Weg begleiten. In der Corona-Krise sind Besuche dagegen unerwünscht und werden vom Personal oft aggressiv abgewehrt. Ein ganzes Volk vermeintlicher Senioren-Schützer führt das Wohl der älteren Generation paternalistisch im Munde — und ignoriert dabei das Wohl und Wehe der Betroffenen selbst. Schon die Anwesenheit lieber Menschen, Gespräche und Zuwendung geben ihnen oft einen letzten Sinn und verlängern sogar ihr Leben. In der nun erzwungenen Isolation hingegen sterben sie oftmals verfrüht, auf jeden Fall jedoch einsam und sicher häufig verzweifelt.

Unabhängig davon, welchen Wissenschaftlern man im Rahmen der Corona-Krise glaubt — unumstritten ist wohl bei allen die Tatsache, dass das Virus speziell für alte Menschen extrem gefährlich ist und dass diese Personengruppe daher bestmöglich geschützt werden muss.

Gerade mit dem Argument „Schutz der Alten und Vorerkrankten“ werden seitens der Regierung die drastischen Einschränkungen im öffentlichen Leben begründet. Wie dieser Schutz in der Realität aussieht, erfuhr die Pflegehelferin T.G. (Name ist der Autorin bekannt), die in Niedersachsen in der Nähe von Bremen in einem Pflegeheim arbeitet und nicht weiß, ob sie es verantworten kann arbeiten zu gehen oder nicht.

Die junge Frau möchte auf die konkreten Probleme aufmerksam machen, damit Katastrophen wie in Wolfsburg zukünftig vermieden werden. Ich sprach mit der Fünfundzwanzigjährigen über ihre Erfahrungen in den letzten Wochen.

Andrea Drescher: Was ist Ihnen passiert?

T. G.: Vor knapp drei Wochen hatte es mich erwischt, mit allen Symptomen, die man sich zurzeit nur „wünschen“ kann. Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, mit 39,6 Grad für mich sehr hohes Fieber, Husten und Atemnot. Da ich seit einem Jahr in einem Pflegeheim arbeite, wollte ich nun von meinem Hausarzt erfahren, ob beziehungsweise wo ich nun getestet werde. Seine Reaktion hat mich erschreckt: Es wären nicht genug Tests verfügbar und solange ich mich in keinem Risikogebiet aufgehalten habe oder mit einer Person von dort Kontakt hatte, gäbe es keinen Grund zum Testen. Inzwischen weiß ich: Das ist eine typische Reaktion.

Hat er gefragt, wo Sie sich aufgehalten haben?

Ja, aber es waren nur die Standardfragen — ob ich in einem Risikogebiet gewesen wäre oder Kontaktpersonen von dort getroffen hätte. Beides traf nicht zu. Aber da ich vor den Kontaktsperren mit einer Freundin oft mit dem Zug unterwegs war, gab es mehr als eine Gelegenheit zur Infektion. Der Bremer Hauptbahnhof ist für uns das Tor zur Welt.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich habe mich an die Corona-Hotline gewandt. Mir wurden die gleichen Fragen gestellt und es gab die gleiche Reaktion: Ohne direkten Kontakt in Richtung Risikogebiet gäbe es keinen Grund zu testen. Auf meine Frage, wie die Ansprechpartnerin es persönlich sehe, kam keinerlei Reaktion. Das kam mir alles unlogisch vor.

Inwiefern unlogisch?

Mir stellte sich die Frage, ob denn nicht im Grunde jeder Bahnhof oder Supermarkt schon ein Risikogebiet ist. Selbst wenn sich dieser Virus keine 9 Tage auf Oberflächen halten sollte, besteht die Gefahr auf schnelle Verbreitung, auch wenn man wie jetzt die Kontakte begrenzt. Zwei Wochen Inkubationszeit sind immer noch ganz schön riskant. Wenn ich jetzt in den Supermarkt gehe und verschiedene Produkte anfasse, die vor mir schon ein Mann in der Hand hatte, der seinem Nachbarn trotz der nun geltenden Gesetze kurz vorher die Hand gereicht hatte — weil er sich dachte ,,ja mein Gott was solls" — der Nachbar vor einer Woche mit dem Zug von Bremen nach Hamburg gefahren war und neben einer Frau saß, die aus München kam, um ihre Tochter zu besuchen, und die Tochter einen Freund mit Familie in Italien hat... Sie wissen, worauf ich hinaus will? Im Grunde könnten wir schon längst alle infiziert sein, ohne es direkt zu wissen.

Wurden Sie wenigstens untersucht?

Nein. Es gab nur eine telefonische „Untersuchung“ — obwohl ich 39,6 Grad Fieber hatte. Ich weiß nicht, ob das eine Erkältung, eine Grippe, eine normale Atemwegserkrankung oder der „Killervirus“ war.

Der Besuch der Praxis wäre erst ab 40 Grad Fieber möglich, vorher wollte man mich dort nicht untersuchen.

Freunde von mir holten die Krankenkassenkarte aus meinem Briefkasten, gingen mit dieser in die Praxis, erhielten die Krankmeldung und brachten sie zu meinem Arbeitgeber. Ich kann mich nicht daran erinnern, seit frühester Kindheit jemals so hohes Fieber gehabt zu haben — aber ich bekam keinerlei Unterstützung oder Medikamente von dem Arzt. Wegen der Gerüchte um Ibuprofen war ich zusätzlich sehr verunsichert. Eine andere Freundin brachte Paracetamol vorbei. Aber ansonsten war ich komplett auf mich allein gestellt. In den Social-Media-Kanälen liest man überall das Gleiche. Viele schreiben, es passiert erst dann etwas, wenn man schon kurz vor dem Sterben ist. Dann darf man in die Arztpraxis kommen — und andere anstecken.

Sie sprechen von den sozialen Medien — mit wem tauschen Sie sich aus?

Einerseits mit Freunden und Kollegen, andererseits mit anderen Pflegekräften — die Mehrheit hat die gleichen Erfahrungen gemacht. Nach meinem Video auf TikTok, das weit über 40.000 Mal angeklickt wurde, gab es fast überall die gleichen Reaktionen. Speziell bei Altenpflegern ist das in meinen Augen sehr fahrlässig. Nur eine Kollegin von mir, die Fieber hatte, wurde — gottseidank — negativ getestet. Sie ist aber als Diabetikerin Typ 1 selbst Risikopatientin. Dass wir als Mitarbeiter der Einrichtungen ein enorm großes Risiko für unsere Bewohner darstellen, scheint nicht zu interessieren. Die Bewohner dürfen von ihren Angehörigen nicht besucht werden, aber das Pflegepersonal kann — selbst bei Symptomen wie meinen — das Haus ungetestet betreten.

Wie sind Sie dann weiter vorgegangen?

Naja, ich habe mir gedacht, da kann man halt nix machen, und meinen Hausarzt wollte ich auch nicht nerven. Also habe ich mich auf die Couch gepackt, bin zu Hause geblieben und habe mich von außen versorgen lassen, wie man das halt so macht. Jetzt geht es mir aber wieder halbwegs gut und seit einer Woche bin ich auch nicht mehr krankgeschrieben. Eine Woche Urlaub hatte ich im Anschluss auch gleich. Allerdings schleppe ich noch einen kleinen Schnupfen und ein bisschen Husten mit mir herum...

Jetzt ist der Urlaub vorbei und Sie gehen wieder in den Dienst — Wie geht es Ihnen dabei?

Der Gedanke, jetzt wieder meinen Dienst anzutreten, freut mich persönlich, weil ich nach der eigenen Quarantäne endlich wieder aktiv werden kann. Aber: ich bin komplett verunsichert. Was ist, wenn ich nun wieder arbeite und wir in circa 2 Wochen die ersten erkrankten Personen bei uns haben? Wer kann mir garantieren, dass ich reinen Gewissens wieder arbeiten kann? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch — ich will unbedingt wieder arbeiten! Aber was ist, wenn? Weil mich der Arzt nicht testet, obwohl ich alle Symptome hatte? Bin ich schuld? Gibt sich der Arzt die Schuld? Ich weiß ja nicht, woran ich erkrankt war. Die Ungewissheit ist da.

Haben Sie noch mal mit der Praxis gesprochen?

Ja. Ich habe grade eben nochmals dort angerufen und die Situation geschildert. Dass ich ohne Untersuchung vom 18. bis 25. März krankgeschrieben war, dass ich immer noch Husten und Schnupfen habe. Ich habe gefragt, ob man mir versichern könne, dass ich reinen Gewissens arbeiten gehen kann. Ich erhielt wieder die Antwort, dass man nicht jeden testen könne. Man könne mich aber auch nicht weiter krankschreiben, dafür gäbe es keinen Grund. Und man könne mir natürlich auch nicht versichern, also garantieren, dass ich niemanden anstecke. Wenn ich Bedenken hätte, sollte ich mich an das Gesundheitsamt wenden. Es gibt vom Arzt keine Garantie, keine Krankschreibung und keinen Test.

Ich frage mich, warum eine Angela Merkel gleich mehrere Male getestet wird, aber Personen, die im Gesundheitsbereich mit Risikopatienten zu tun haben, nicht ein einziges Mal.

Weiß Ihr Arbeitgeber davon?

Grundsätzlich ja, ich habe mit meiner Chefin gesprochen und mich mit Kollegen ausgetauscht. Die Stimmung ist unterschiedlich. Die einen sagen, ich solle mich auf das Urteil meines Arztes verlassen, andere können es überhaupt nicht verstehen und verweisen mich auch auf das Gesundheitsamt. Ich weiß einfach nicht mehr weiter.

Am ersten Arbeitstag habe ich mit meiner Chefin gesprochen, die es auch nicht versteht. Uns allen sind die Hände gebunden, wir müssen das hinnehmen. Meine Chefin meinte, dass das Gesundheitsamt das wohl so ähnlich sehen würde wie die Ärzte. Wir könnten halt nichts machen. Und Mundschutz gibt es keinen.

Wir haben jetzt die Anweisung, dass maximal vier Kollegen im Dienstzimmer sein dürfen. Aber an Menschen mit speziellem Pflegegrad arbeiten wir immer zu zweit — und kommen uns da natürlich viel näher als es mit 1,5 bis 2 Meter vorgeschrieben ist. Von einer Kollegin in Hildesheim habe ich erfahren, dass sie getestet wurde.

Und was sagt das Gesundheitsamt?

Da habe ich auch angerufen. Nachdem ich zunächst hin und her verbunden wurde, bekam ich jemanden ans Telefon, der mir zumindest mal zuhörte. Mein Gegenüber wollte sich intern erkundigen, mit einer Hygienebeauftragten sprechen, und versprach mir deren Rückruf. Der kam dann auch kurze Zeit später — und war wirklich unglaublich. Man könne das nicht ändern. Sie stünden ja nicht über den Ärzten. Wenn die Ärzte weder testen noch krankschreiben würden, gäbe es ja sicher einen Grund. Dann wäre das eben so. Ich könne mir ja noch einen anderen Arzt außerhalb meines Wohnortes suchen. Das ist unfassbar.

Warum wird so ein riesiges Tamtam gemacht — Sicherheitsabstand, Kontaktsperren und so weiter — aber Erkrankte werden nicht getestet, wenn sie nicht direkt im Risikogebiet waren, obwohl sie mit hochgradig gefährdeten Patienten arbeiten. Bin ich jetzt eine Gefahr für die Bewohner im Heim? Das kann doch nicht sein, oder? Also, ich glaube, da werden die Prioritäten vertauscht. Genauso wie sich auch einige Heime immer noch nicht einig sind, ob die Mitarbeiter nun am Arbeitsplatz mit Mundschutz arbeiten sollen oder nicht. Die ganzen Regeln in Supermärkten und die Versammlungsverbote zum Schutz der alten Menschen sind doch völlig sinnlos, wenn man derartig fahrlässig vorgeht. Die Corona-Toten im Wolfsburger Heim werden kein Einzelfall bleiben, wenn man so weitermacht.

Danke für die Offenheit — und alles Gute!

 

Erschienen bei Manova

 

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