15.08.2016

 

Tag 9
Von Putin-Propagandisten hirngewaschen ...
 

Andrea, Juri, Claus, Alexej – Zum Vergrößern bitte anklicken!
Bevor ich über die heutige Gehirnwäsche schreibe, noch eine kleine Ergänzung zu gestern. Entgegen meiner Planung bin ich doch nicht früh zu Bett, sondern mit Juri, Alexej und Claus in die Kneipe bzw. noch etwas essen gegangen. Juri (25) ist der erste Russe, den ich auf dieser Reise getroffen habe, der wirklich fließend Englisch spricht. British English though ... but ... etwas hochnäsig eben, aber ... wir verstehen uns auf Anhieb, als er im Hostel ankommt. Seinem Vorschlag, irgendwohin in eine Kneipe zu gehen, war ich daher sofort aufgeschlossen gegenüber, Claus war schnell überzeugt und Alexej – einer von den Jungs mit denen Claus die Nacht vorher verbracht hat – stieß nach Feierabend um 21.00 Uhr auch noch dazu.



Antiquierte Hardware
Die Begegnung mit Juri sorgt dafür, dass wir vielleicht eines der weiteren ursprünglichen Ziele der Friedensfahrt erfüllen werden können: für nachhaltige wirtschaftliche Zusammenarbeit sorgen. Klingt „wichtig“, ist aber einfach erklärt. Die in Russland eingesetzte Computer-Hardware ist – vorsichtig ausgedrückt – mehr als antiquiert. In unserem Hostel steht ein PC aus dem Jahre 2004. Nein, kein Tippfehler. Wirklich 2004. Claus hat in seinem Job als IT-Schrauber immer wieder Masse an Hardware zur Verfügung, die er einfach nur wegwerfen muss, weil bei uns alles, was älter als 3 bis 4 Jahre ist, unverwertbar ist. Die Idee, diese Tonnen an Hardware nach Russland zu bringen, schwirrt ihm seit Betreten unseres Hostels in Pskow durch den Kopf. Und seit der Begegnung mit Juri nimmt diese Idee konkretere Formen an, da dieser über die nötigen Kontakte und auch Interessenten in Russland verfügt. Er ist als Anwalt in einer IT-Firma tätig, das passt doch wieder, nicht wahr? Ein Anfang ist gemacht, jetzt kann man nur schauen, was daraus wird.


Soweit der Rückblick zum heutigen Tag, den ich mit zwei offensichtlich bezahlten Kreml-Propagandisten, die alles daran setzen, aus mir einen überzeugten Putin-Anhänger zu machen.

Nein – es sind einfach Elena, die ich gestern beim Gassi gehen getroffen hatte, und Juri, beides gebildete – und kritische – Menschen. Juri ist 25 Jahr jung, hochintelligent und belesen, hat längere Zeit in England verbracht und ist als Anwalt und Geschäftsmann tätig. Elena unterrichtet Kulturphilosophie und Religionswissenschaft und ist in ihrer Freizeit ehrenamtlich in Sozialprojekten tätig. Auch sie hat Jahre im Ausland verbracht, kennt also den „goldenen“ Westen aus eigener Anschauung. Also typische Kreml-Propagandisten – denn das, was sie mir den ganzen Tag, während wir gemeinsam durch die Stadt bummeln, so erzählen, kann nur aus den Federn der russischen Propaganda stammen.

Es fängt damit an, dass sie behaupten, dass niemand Angst vor dem FSS – früher KGB – habe. Seit 1995 wären die Kirchen nicht mehr unterwandert, es werde nicht kontrolliert, was dort diskutiert wird, und man könne überall und immer frei sprechen. Ein Bekannter von Elena arbeitet für den FSS – seit der Ukraine-Krise sehr intensiv und fast rund um die Uhr, aber dabei ginge es um Terrorabwehr. Unglaublich, nicht wahr? Es kommt aber noch besser.

Laut Elena gibt es keine Berührungsängste seitens der Russen mit Ukrainern. Ihre Schwester ist Hundezüchterin, reist regelmäßig in die Ukraine und versucht – teilweise verzweifelt – den Menschen dort die Angst zu nehmen. Freunde dieser Schwester, die eher dem rechten Lager zuzuordnen wären, habe sie eingeladen nach Russland zu kommen und sich einen Welpen abzuholen. Aber sie haben eben Angst. Dagegen haben die Russen keine Angst vor der Ukraine und seien auch sehr tolerant. Man könnte sogar, so behauptet zumindest Juri, in Russland auch mit Nazi-Symbolen rumlaufen, ohne dass man angegriffen würde.

Solche Erzählungen gehören doch ins Reich der Propaganda, nicht wahr? Die beiden sind wirklich unschlagbar, denn gleich kam die nächste Geschichte, die so garnicht mit unserer westlichen Wahrheit in Einklang zu bringen ist. Zumindest nicht für mich.


Altes Haus im Stadtzentrum
Elena erzählt, dass Pskow zu den ärmsten Bezirken in Russland gehört. Trotzdem bestehen beide darauf, dass die Sanktionen kaum Auswirkungen auf die normalen Menschen hätten. Im Gegenteil. Durch die Sanktionen wäre eine positive Entwicklung in Russland angestoßen worden.

Die ersten zwei Monate wäre zwar etwas zu spüren gewesen. Die Auswahl an Produkten war eine Zeitlang geringer und man habe auf Lebensmittellieferungen aus Weißrussland zurückgreifen müssen, aber dann sprang die eigene Wirtschaft – sowohl Landwirtschaft als auch Industrie – wieder an und sei seitdem stetig im Aufbau. So habe sich das Land dank der Sanktionen erfolgreich neu aufgestellt, habe Abhängigkeiten Richtung Westen gelöst und werde von Tag zu Tag erfolgreicher. Beide sagten übereinstimmend, dass eine Preissteigerung für sie kaum wahrnehmbar gewesen sei, vielleicht bei drei Prozent gelegen habe.


Und trotz der niedrigen Gehälter könne man in Russland gut leben. So etwas kann nur aus dem Land der Phantasie stammen, wobei ...

... Elena verdient als Lehrerin 1600 Rubel – also etwas mehr als 220 Euro und kann sich Bionahrung leisten. Bio-Nahrung! Davon träumen in Westeuropa die meisten noch. Nur auf regelmäßige Fahrten nach Moskau müsse sie verzichten, aber sie würde sich gerne den Gürtel etwas enger schnallen. Das wäre nicht so schlimm für sie. Nur die ganz alten Leute hätten vermutlich Probleme. In ihrem Umfeld gäbe es niemanden, der unter den Sanktionen leidet. Übelste Kreml-Propaganda – ganz offensichtlich.

Juri ging in dieser Diskussion sogar noch weiter. Er wünscht sich den eisernen Vorhang wieder zurück, um noch mehr Druck auf die Wirtschaft aufzubauen, die eigene Autonomie bzw. Autarkie zu steigern.

Verzicht üben, damit es einem im Anschluss besser geht. Wer glaubt denn sowas?

Für beide ist es undenkbar Russland zu verlassen. Elena könnte das problemlos, weil ihre estnischen Vorfahren ihr jederzeit eine Einwanderung nach Estland (und damit den Zugang zu Westeuropa) ermöglichen würden. Aber Russland habe so viel zu bieten, dass es ihnen undenkbar erschien, irgendwo anders hinzugehen. Juri überlegt, in einigen Jahren das Angebot der russischen Regierung in Anspruch zu nehmen, bei dem jeder 1 Hektar Farmland in bis dato sehr dünn besiedelten Gegenden kostenlos erhält. Dass es sich dabei auch um Farmen in Sibirien handelt, stört ihn nicht im geringsten. Einen echten Russen können minus 40 Grad nicht erschüttern, man kann eine dicke Jacke anziehen.

Spätestens jetzt wusste ich, dass es sich hier um zwei auf mich angesetzte Kreml-Trolle handeln musste. Kein vernünftiger Mensch kann drüber nachdenken, freiwillig bei –40 Grad leben zu wollen. Obwohl ...

... das Argument, dass man sich zwar warm anziehen, bei Hitze, die eigene Haut aber nicht ausziehen kann, klang ebenfalls nicht falsch.

Egal. Das waren Putin-Propagandisten. — Für alle, die mich nicht kennen: IRONIE ENDE. :-)


Niedrige Fenster
Ich muss gestehen, manche Aussage hat mich erstaunt, aber letztlich doch nicht verwundert. Was wissen wir schon? Im Wesentlichen nur das, was uns die Medien – ob System oder Alternativ – berichten. Was davon Wahrheit ist, kann man in den wenigsten Fällen selbst überprüfen. Eines MEINER Ziele für die Friedensfahrt war es, andere Sichtweisen kennenzulernen. Von Wahrheit will ich nicht sprechen, denn jeder Mensch hat seine eigene Wahrnehmung und damit auch eigene Wahrheit. Ich kann nur darüber schreiben was ich gesehen bzw. gehört habe. Meine wahrgenommene Wahrheit eben. Und dank der Begegnung mit Elena und Juri hat diese eine interessante Perspektive bekommen. Mein Dank gilt den beiden – und natürlich dem Universum, das mir diese Begegnung möglich gemacht hat.



Russischer Zigarettenstand
Noch einige zusammenhanglose Gedanken am Rande, was mir unterwegs noch aufgefallen ist.

Warum sind in manchen Häusern die Fenster so nah am Boden? Damit man, wenn man im Winter heizt, nicht die ganze Wärme durchs Fenster jagt, die ja bekanntermaßen nach oben aufsteigt.

Die spinnen die Russen. Es ist verboten, Zigarettenpakete in einer normalen Auslage anzubieten. Sie müssen hinter verspiegelten Scheiben liegen, damit ja kein Kind diese vor Augen bekommt.


Unsere Reise war eigentlich gar nicht nötig. Laut Elena mögen die Russen die Deutschen und Franzosen sehr. Man weiß, dass die deutschen Menschen nichts Böses im Sinn haben. Die US-Amerikaner und die Briten werden aufgrund ihrer Kriegsaktivitäten nicht so geschätzt. Und Chinesen und jetzt auch wieder die Türken werden eher mit Vorsicht „genossen“. Die sind eben sehr anders. Deutsche, Franzosen, Holländer und die meisten anderen Europäer sind sehr, sehr gerne gesehen.


Zarenfamilie als Heilige
Der frühere Zar und seine Familie wurden vor ca. 5 Jahren heiliggesprochen. Er hätte das Land verlassen und sich und seine Familie retten können. Dass er es nicht getan hat, brachte ihm knapp 100 Jahre später die Heiligsprechung ein.

Förderung der Gesellschaft: Junge Frauen sollen Kinder kriegen – bis zum 28. Lebensjahr gibt es Geld vom Staat. In Pskow laufen daher ziemlich viele Schwangere rum und auch in Juris Freundeskreis sind fast alle auf dem Weg Eltern zu werden oder sind es bereits.



Das Ende eines schönen Tages mit Elena und Juri
Warum dauert eine Reparatur so lange? Große Distanzen, nur wenige Ersatzteillager. Die Lieferung von Moskau nach Wladiwostok nimmt allein drei Tage in Anspruch – da ist eine Reparatur in 24 Stunden kaum möglich.

Apropos Reparatur.

Die Reparatur meiner Kupplung hat auch nur 5 Tage in Anspruch genommen. Aber seit 19.00 Uhr steht mein Wagen wieder vor dem Hostel. Die Elektronik scheint zwar etwas gestört, aber er fährt wieder. Und wird uns morgen sicher nach Welikije Luki (ein Dorf in der Pampa zwischen Pskow und Smolensk) und übermorgen nach Smolensk bringen. Sollte ich morgen nichts von mir hören lassen, dann hatte die Unterkunft kein WLAN. :-)

 
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